Artikel von Marie-Louise Bercher, veröffentlicht 1937 unter dem Titel Suite marocaine, mit zwei Kapiteln über Fès und Sefrou in der Revue des Deux Mondes.
Lautlos kommen und gehen sie – die Fassis in ihren gelben Babuschen. Ihre Kleidung ist äußerst schlicht.
- Makellos bei den Reichen,
- nachlässig bei den kleinen Bürgern, Handwerkern und Armen –
doch immer ist es dieselbe weiße Wolle, die sie kleidet.
Nur die Studenten tragen farbige Gewänder, doch das Mittagslicht, das durch die Schilfrohrdächer der engen Gassen dringt, dämpft und mildert selbst die kräftigsten Farben, wie Mondlicht auf Seide.
— Du, schöner Jüngling mit verträumtem Blick, hast dir mit Bedacht dieses kräftige Orange oder dieses tiefe Violett ausgesucht – beim Händler, der in seinem Stand im Woll-Souk seine Kif-Pfeife raucht.
Aber du weißt, dass das Orange in Fès einen Hauch zarter Grautöne annehmen wird, und das Violett sanft ins Schwarze übergeht.
Deshalb bevorzugst du zarte Rosatöne, subtile Grautöne und himmlische Grüntöne.
Eine Stadt ohne Frauen auf den Straßen
Auf den Straßen sieht man keine Frauen – oder höchstens:
- alte Sklavinnen, die Lebensmittel auf dem Kopf balancieren,
- verschleierte schwarze Frauen in Blau,
- bettelnde Greisinnen, die in endloser Litanei den Namen Allahs anrufen.
Der Zauber der Straßen von Fès hat nichts mit der Präsenz von Frauen zu tun.
Tatsächlich ist er nur in ihrer Abwesenheit möglich.
Die Frauen von Fès leben hinter Mauern, in Häusern, die von außen unscheinbar wirken.
- Nur eine massivere Tür, verziert mit größeren Nägeln,
- oder ein leicht gewölbtes andalusisches Fenster
verrät die Residenz eines Wohlhabenden.
Es gibt keine reichen und armen Viertel.
- Die Reichen besitzen prächtige Landsitze in den umliegenden Hügeln.
- Doch in Fès leben alle Tür an Tür, in brüderlicher Nähe,
wo die einen zur Einfachheit gezwungen werden und die anderen Diskretion und Zurückhaltung wahren müssen.
Es gibt ein arabisches Wort, das diese besondere Seele von Fès beschreibt:
Hachouma – Die geheime Etikette von Fès
Hachouma ist eine tief verwurzelte Schamhaftigkeit, ein Ehrenkodex, der dazu führt, dass ein Gentleman sich von unangemessenen Szenen und Gesprächen fernhält.
In Kombination mit der Gelassenheit des Islam verleiht Hachouma den Fassis ein edles, distanziertes Auftreten.
Hachouma prägt das Verhalten der jungen Männer:
- Sie sprechen nicht laut in Gegenwart Älterer – selbst nicht vor etwas älteren Brüdern oder Cousins.
- Der Jüngere raucht niemals vor dem Älteren – geschweige denn vor seinem Vater oder Onkel.
- Es gehört sich nicht, Wut zu zeigen, aufgeregt zu wirken oder in Eile durch die Straßen zu eilen.
- Man kritisierte niemanden öffentlich, zeigte keine zu großen Emotionen oder übertriebene Freude.
Eine Eleganz der Zurückhaltung
Hier kommen zwei blasse, schöne junge Männer – wahrscheinlich Studenten der Universität Al-Qarawiyyin.
Sie gehen nebeneinander, mit einigen Seiten eines Buches in der Hand, das sie im Unterricht besprechen.
Sie reden nicht.
Sie halten sich sanft am kleinen Finger.
Lassen wir sie uns folgen.
Sie steigen einen Hügel hinauf, von dem aus man bei Sonnenuntergang in der Ferne die langsamen Silhouetten von Frauen auf den Dachterrassen sehen kann.
Aus den geheimen Innenhöfen steigt unsichtbare Musik.
Doch die beiden jungen Männer schweigen weiterhin.
Oder sie sprechen so leise, in einem so ruhigen Rhythmus, dass sie gleichgültig wirken.
Doch das sind sie nicht.
Sie sind Künstler auf ihre eigene Weise.
Sie genießen den Zauber dieses Augenblicks, wenn Fès sich in den Glanz einer Perle hüllt.
Aber es wäre nicht anständig, sich laut zu begeistern, zu scherzen oder sich lebhaft zu freuen – wie es europäische Studenten vielleicht tun würden.
Hachouma prägt Kunst und Architektur
Hachouma ist überall in Fès – in der Lebensweise, der Kunst und der Architektur.
Es wäre unangebracht, den Reichtum eines Hauses von außen sichtbar zu machen.
Nur Moscheen, Medersen und einige fromme Stiftungen (Habous) dürfen mit geometrischen Mustern, feinster Steinornamentik und kunstvollen Mosaiken geschmückt werden.
Wenn man jedoch ein reiches Haus betritt, fällt auf:
- Trotz des Farbenspiels sind die Mosaiken und Malereien dezent.
- Ihre Muster sind rein geometrisch.
Das ist nicht nur in Fès so, sondern in allen Städten, wo der Islam sich unverfälscht erhalten hat und weiterhin das gesamte Leben durchdringt.
Der französische Gelehrte E. Borrel bemerkt:
- Ein Polygon mit einer geraden Anzahl von Seiten vermittelt Stabilität und erzeugt Ruhe.
- Ein Polygon mit einer ungeraden Anzahl von Seiten wirkt unruhig – und vervielfacht sich diese Form, kann sie Unbehagen auslösen.
In der islamischen Kunst besitzen Kalligraphie, Zahlen und Muster eine mystische Bedeutung – ähnlich wie in der europäischen Mystik des Mittelalters.
Der berühmte Islamwissenschaftler Louis Massignon erklärt, dass jede arabische Konsonante eine transzendente Bedeutung hat.
Ein Gläubiger, der lange Stunden in seinem Haus träumt, kann darin endlose Meditationsthemen finden.
Aber alles bleibt diskret, angedeutet, niemals aufdringlich.
Das Geheimnis des Wohlstands von Fès
Ein letzter Punkt macht die alte Kultur von Fès so einzigartig:
Die Liebe zum Geld steht hier nie an erster Stelle.
Obwohl Fès seit Jahrhunderten eine wohlhabende Stadt ist, hat sie nichts von der Vulgarität, die Reichtum oft mit sich bringt.
Der Schriftsteller Philippe Guiberteau beschreibt dies so:
„Da der Einfluss des Geldes sie noch nicht verdorben hat, strahlt auf den Gesichtern vieler Arbeiter von Fès eine besondere Helligkeit… Sie wissen stets, dass wir nur Staub sind. Ein Händler, in seinen Stand gekauert, antwortet mir nicht, weil er seinen Rosenkranz betet. Viele andere, wenn sie von Unglück hören – groß oder klein – sagen einfach: ‚Es bedeutet nichts‘. Überall auf den Mauern von Fès liest man hundertfach den Namen ‚Allah‘.“
Glaube und Großzügigkeit
Der Fassi ist ein gläubiger Mensch.
- Allah steht im Mittelpunkt seines Lebens.
- Er besucht mehrmals täglich die Moschee seiner Bruderschaft.
- Er gibt den Armen großzügig, denn der Koran fordert dies.
An manchen Tagen ziehen Arme in Scharen zu den Häusern der Reichen, um Almosen zu erbitten.
Niemand wird mit leeren Händen weggeschickt.
Selbst jene, die nur aus Konvention religiös sind, würden es niemals wagen, zu habgierig zu erscheinen – aus Sorge um ihre Ehre.
Und so tragen sie die Ewigkeit in ihren Kleidern, ihren Gesten und ihrer Haltung –
genau wie die Stadt selbst, deren sanftes, beständiges Geräusch das Flüstern unterirdischer Wasserläufe ist…